Zuckergeist
 

Wahres Lernen

 

“Man müsste das Leben des Kindes als ein berechtigtes selbständiges Leben neben dem eigenen gelten lassen und ehren. Dann würde von selbst eine andere Schule, eine Schule ohne Prüfungen und Wettstreit entstehen, die das Leben nicht aus den Augen verliert, sondern immerfort darauf zugehen würde. Und diese Schule ist die einzig mögliche, die einzige, welche nicht hindert, sondern hilft, die einzige, welche nicht Persönlichkeiten im Keim erstickt, sondern jedem die Möglichkeit gibt, die innersten Wünsche seines Lebens durchzusetzen.” Rainer Maria Rilke


Lernen geht nur mit Begeisterung. Kinder lernen unglaublich schnell, wenn sie begeistert sind. Zu Beginn sind sie offen für die Welt um sich herum und wollen alles aufsaugen, was um sie herum geschieht. Um sich in dieser Welt zurecht zu finden, orientieren sie sich an den Menschen, denen sie vertrauen; an der Mutter, am Vater, an Geschwistern.
Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, zu lernen und auf das Lernen abzuzielen. Nichts zeichnet den homo sapiens so sehr aus, wie sein natürlicher Drang, zu lernen.
Warum fällt so vielen Kindern dann das Lernen heute so schwer?

Wie kommt es dazu, dass so viele Kinder ihre Neugier verlieren, die Sehnsucht nach dem eigenen Wachsen und Reifen lahmlegen?

 Es liegt an der fehlenden Begeisterung. Man mag einwenden, dass doch das Lernen heute mehr auf Spaß ausgelegt sei, denn je zuvor. Es gibt Apps, die Begeisterung in den Kindern wecken sollen, indem sie mit Challenges motivieren, bestimmte Punkte zu erreichen. Die Apps sind kindgerecht gestaltet, sie bringen Spaß und die Zeit des Lernens vergeht wie im Fluge, nahezu unbemerkt. Langeweile war gestern. Auch bei Schulbüchern haben Pädagogen Konzepte entwickelt, den Kindern die Freude am Lernen zu erleichtern. Im Unterricht werden Spiele und Medien eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen. Doch wo ist die Aufmerksamkeit, die wir zurückgewinnen wollen? Warum fällt den Kindern das Lernen zunehmend schwerer, obwohl die Qualität des Unterrichts gestiegen ist?

Obwohl das Kind doch mehr “gesehen” wird als je zuvor?

Das menschliche Gehirn lernt nicht nur in der Schule und bei den Hausaufgaben. Das Gehirn lernt rund um die Uhr. Es kann nicht NICHT lernen. Das heißt, dass das Gehirn ständig dabei ist, Informationen aus der Umgebung aufzusaugen und zu verarbeiten. Unsere Welt ist komplexer geworden in den letzten Jahrzehnten. Die Digitalisierung stellt ein Übermaß an Reizen bereit, die der Mensch verarbeiten muss. Um der Menge an Informationen gerecht zu werden, die auf den kindlichen Geist einströmen, ist das kindliche Gehirn gezwungen, die Inhalte oberflächlich aufzunehmen. Es speichert sie im Unterbewusstsein, weil es nicht die Zeit hat, sie in der Tiefe zu verarbeiten. Es nimmt so lediglich Bruchstücke auf, die kurz abgescannt werden und dann in Vergessenheit geraten. Kurz gesagt: Die Reizüberflutung der modernen Welt beraubt das Kind der Begeisterung. Wieder kann man einwenden, dass doch die Medien gerade die Möglichkeit haben, zu begeistern. Die Errungenschaften der Technik bieten ungeahnte Möglichkeiten zu begeistern und somit zu lernen. Doch hier lohnt es sich, einmal genauer zu betrachten, was Begeisterung eigentlich genau ist, und warum Begeisterung nicht gleichzusetzen ist mit “Spaß am Lernen”.

Was genau ist Begeisterung, wenn sie eine so enorme Kraft mit sich bringt, Menschen lernen und Menschen wachsen zu lassen? Begeisterung besitzt genau das, was unser Zeitgeist so oft entbehrt: “Geist”. Sich zu begeistern bedeutet, etwas einen Geist zuzusprechen. Sich begeistern zu lassen heißt, die Sache, von der man begeistert ist, auf gewisse Weise heilig zu sprechen. Reflexiv betrachtet bedeutet Begeisterung aber vor allem, dass diese heilige Sache, der wir uns zuwenden, uns begeistert, uns Geist und Sinn gibt und damit uns heilig macht. Begeisterung lässt uns wachsen, weil sie uns Gott ein weiteres Stück ähnlicher macht. Begeisterung lässt Göttlichkeit in uns spiegeln. In der Fülle, oder besser Überfüllung, unserer Welt, fällt die Suche nach dem Sinn oft schwer. Es fällt schwerer, sich auf eine Sache so tief und konzentriert einzulassen, dass man bis zu ihrem Inneren, ihrem Kern, oder eben ihrem Geist vordringt. Wenn man den Sinn nicht “sofort” finden kann, ist es oft schwer, sich für eine Sache zu begeistern. In unserer schnelllebigen Zeit fehlt oft die Fähigkeit zur Muße. Diese aber braucht man unbedingt, um sich auf die Suche nach dem Sinn zu begeben. Alles zu Lernende wird ohne diese Muße nur an der Oberfläche angekratzt. So, wie ein Mensch oft nach seinem Äußeren beurteilt wird, so wird eine Sache nach Kenntnisnahme der Oberfläche beurteilt. Der Kern bleibt unentdeckt. Der Geist der Dinge bleibt verschlossen - und die Begeisterung hat keine Chance.

In der Schule bleibt Begeisterung oft aus. Meist wird Schule nur von außen betrachtet und an ihrer Oberfläche bewertet. Jeder kann etwas dazu sagen, denn jeder hat einen beträchtlichen Teil seiner Jugend dort verbracht. Eltern, Lehrer, Politiker, Pädagogen und Philosophen; Alle haben ein festes Bild von Schule, aber nur wenige dringen zum Kern dessen, was Schule wirklich ist, vor. Nur wenige erkennen das Wesen der “schola” und das Potential, welches in dieser Institution verborgen ist. In den meisten Augen wird sie als Lehranstalt gesehen, in die man eben zu gehen hat, und von der man nach Hause kommt, mit einem Berg an Informationen im Kopf, die einem im Leben irgendwann mal hilfreich sein könnten. All dieses Wissen sollte in kürzester Zeit im Gehirn des Schülers angesammelt werden, auf dass er endlich mit dem richtigen Leben beginnen könne, dem Leben nach der Schule “für das man lernt”. Und richtiges Leben erlange man nur, wenn man an der Spitze des Erfolgs mitmischt, wenn man sich im internationalen Wettbewerb behaupten kann. Diese "Werte" vom "richtigen Leben" werden den Kindern in der Schule vermittelt und sie verinnerlichen diese. Erst dann bekommt das Leben einen "Sinn" - wenn es erfolgreich ist und wenn es zweckmäßig ist. Später einmal. Aber dieser "Sinn" ist geistlos - sonst würde er den Lernenden begeistern. Der Sinn ist mehr Schein als Sein. - ein Schein, der die Herrlichkeit der Sache überblendet. Aber so, wie die Welt immer lauter geworden ist, so dass man die leisen Stimmen nicht mehr zu hören vermag, so ist sie auch heller geworden, so dass sie den Glanz des Heiligen überblendet. In etwa so, wie man in der hell beleuchteten Großstadt den Sternenhimmel nicht mehr zu sehen vermag. In der Stadt ist alles irdisch; sie scheint sich selbst genug zu sein. Sie gaukelt Fülle und Herrlichkeit vor und zieht Massen von suchenden Menschen an. Bei einem Stromausfall erst hat die Herrlichkeit wieder eine Chance. Auch die Schule ist geprägt von der Suche nach "mehr". Sie ist gekennzeichnet von dem Trend "mehr ist mehr in noch kürzerer Zeit" (G8). Sie ist das Gegenteil vom wahren Leben, vom reinen Leben, das sich selbst genug ist. Warum sonst sollte man das Schulleben sonst abgrenzen vom späteren Leben, für das wir lernen? Der Kern des wahren Lebens hat einen Geist und macht Begeisterung möglich. Wo ein Kind in seinem wahren Wesen gesehen wird, als ein Wunder des Lebens, wo es nur in seiner Göttlichkeit gesehen wird, bar aller Oberflächlichkeit, aller Erwartungen und aller Äußerlichkeiten, nur dort wird man bei einem Kind Begeisterung erfahren. Auch wird man es nicht begeistern müssen, es wird selbst begeistert sein. Es wird lernen und wachsen und Gottes Ebenbild sein. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Sinn nicht nur die Schüler Kinder sind, sondern ebenso die Eltern und Lehrer. Und natürlich auch die Politiker.

 Warum fällt in der Schule hochsensiblen und hochbegabten Kindern das Finden eines Sinns besonders schwer? Aufgrund der erhöhten Leistungsfähigkeit haben sie das Potential tiefer in eine Materie einzudringen. Sie nehmen oft mehr wahr und hätten die Möglichkeit, mehr in die Tiefe zu gehen. Ihr Kern liegt tiefer vergraben, sie finden den Sinn erst in den tieferen Ebenen. Im schnelllebigen Alltag ist jedoch oft keine Zeit, in diese Tiefen und Weiten vorzudringen. Man streift an der Oberfläche vorbei und geht zum nächsten Thema über. Das Potential dieser hochbegabten Kinder wird nicht ausgeschöpft. Sie bleiben unter ihren Möglichkeiten, wodurch sie nie bis zu ihrem eigenen Kern vordringen dürfen. Da diese Kinder aber ein Gespür für ihr wahres Selbst haben und wissen, wo ihr Sinn verborgen ist, nämlich in der Tiefe, finden sie sehr selten ihren Sinn. Das kann so weit gehen, dass sie eine große Sinnlosigkeit in ihrem Leben empfinden. Sie erfahren seltener Begeisterung, weil der Geist noch im Verborgenen liegt. Man ist gezwungen, darüber hinweg zu gehen. Man erkennt nicht seine eigene Heiligkeit. Doch nur die Erfahrung dieser göttlichen Schöpferkraft, der eigenen Selbstwirksamkeit gibt dem Leben Sinn. Wo der Sinn fehlt, die Begeisterung untergraben wird, da entsteht eine große Leere. Ein Vakuum, in dem man sich selbst nicht spüren kann. Da unsere Gesellschaft wenig Gespür für Menschen hat, die aus der Norm fallen, empfinden sich hochbegabte Kinder oft als falsch; als nicht zugehörig und damit als einsam und alles andere als göttlich. Sie resignieren und ihr enormes Potential wird lahmgelegt. So fühlt es sich an: lethargisch, passiv, leer und sinnlos.

Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, hochbegabte und hochsensible Kinder (denn auch diese “sehen” tiefer als andere Menschen) in ihre Kraft zu bringen. Diese Aufgabe erfordert Zeit, Muße und Mut. Mut, anders zu sein. Mut gegen eine Norm zu verstoßen; nachzuhaken, zu hinterfragen und tiefer zu gehen. Tiefer vielleicht auch in unbekanntes Terrain, tiefer vielleicht auch in die Dunkelheit - hinter der das Licht wartet.

Das gilt für jedes einzelne Kind. Denn jedes Kind hat eine außergewöhnliche Begabung für etwas, das meist außerhalb des schulischen Bereichs liegt. Denn "Jedes Kind ist hochbegabt",  wie Gerald Hüther immer so schön sagt.

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