Das Präludium: Eine Allegorie für die Kindheit und Jugend
„Ein Kind, das seinen Eltern vertraut, findet immer wieder nach Hause.“ Epheser 6.1
Mit dem Präludium beginnt die Musik. Das musikalische Vorspiel war zu Zeiten Johann Sebastian Bachs ein Satz, welcher der eigentlichen Komposition vorausging. Meist wurde das Präludium improvisiert und der Musiker konnte in diesem, dem Hauptwerk vorausgehenden Satz, all seine Virtuosität, seine Kreativität und musikalische Phantasie präsentieren, und den Zuhörer auf die folgende Komposition einstimmen.
Nur wenige Präludien sind uns erhalten. Nur wenige Präludien wurden vom Komponisten notiert und geben uns einen Eindruck über die Improvisationskunst und die Spontanität und Phantasie, mit welcher die Instrumentalisten damals musizierten. Wie eine Fata Morgana mussten die Klanggebilde wirken, welche vom Musiker ins Leben gerufen wurden, um im Moment des Entstehens schon wieder zu verklingen. Die meisten Präludien sind verloren und waren so flüchtig wie die Zeit selbst.
Leider, - denn genau diese Fähigkeiten des Musikers sind es, die uns heute immer seltener begegnen, wenn wir „klassische“ oder „ernste“ Musik hören: Kreativität und Freiheit im Spiel, Spontanität und Phantasie. Ernste Musik ist es tatsächlich geworden, wenn diese Dinge in der Musik fehlen.
Für mich ist das Präludium eine Allegorie für die Jugend; denn das Spiel des Lebens beginnt mit der Jugend. Nicht nur in der Musik ist das Spiel dem Ernst gewichen, auch unsere Kinder werden schon früh auf „den Ernst des Lebens“ vorbereitet. Schon in jungen Jahren werden den Kindern Werte vermittelt, die ihnen im späteren Erwachsenenleben von Vorteil sein sollen. Spontanität, Phantasie und Kreativität weichen den Kompetenzen, welche im erfolgreichen Geschäftsleben gefordert werden. Ökonomisches Berechnen, Kognitive Kompetenzen und Wettbewerbsdenken werden schon in der Vorschulzeit an die Kinder herangetragen, um ihnen möglichst früh die Werte der modernen Gesellschaft zu vermitteln. Phantasie und Kreativität sind für den ökonomischem Erfolg scheinbar weniger relevant als Geradlinigkeit und feste Strukturen.
Wie viel Zeit darf das Präludium heute noch in Anspruch nehmen? Unserer Generation scheint die Muße zu einem Präludium zu fehlen. Als Inbegriff des Flüchtigen, als Sinnbild für das Immaterielle hat es in unserer konsumorientierten Gesellschaft schlechte Karten.
Nicht nur im Konzertsaal wird der einleitende improvisierte Satz nicht mehr gespielt, sondern auch im wirklichen Leben kommt das Präludium zu kurz. Die Kindheit, die Unbeschwertheit, das Lernen im Spiel weicht der vorgegebenen Form. Das Leben beginnt für unsere Kinder nicht selten mit dem zweiten Satz. Eng gefasst wie eine Fuge muss das Kind sich Aufgaben zuwenden, die strengen Regeln unterliegen. Auf dem Fuße unterliegt es der Kontrolle von Eltern und Pädagogen. Unsere Kinder dürfen nicht mehr wachsen, liebevoll gepflegt unter der Obhut der Kindergärtner(innen), sondern erzogen müssen sie werden, Erzieher und Erzieherinnen sollen sie in die gewünschte Richtung zerren. Die Erwachsenen scheinen zu wissen, was die Kinder brauchen. Erfolg im späteren Leben wird immer mehr nach dem finanziellen Einkommen gemessen.
Lassen wir unsere Jugend wieder mit einem Präludium beginnen, geprägt von Spiel, Spontanität, Kreativität und Phantasie. Erhalten wir unseren Kindern diesen ersten wichtigen Satz, der unseren Kindern das Gefühl von Freiheit gibt, ohne sie mit dieser Freiheit zu überfordern. Geben wir ihnen das Präludium zurück - und lassen wir sie
klingen.
Ach wie flüchtig; ach wie nichtig?
„Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet und auch wieder bald vergehet, so ist unser Leben, sehet!
Das Spiel beginnt. Mit dem Präludium wird ein neues Leben geboren, denn ein musikalisches Kunstwerk wird von einem Musiker und seinem Instrument zum Leben erweckt. Das Spiel des Lebens beginnt mit der Jugend. Von nun an wird ein neues Leben heranwachsen; es wird reifen, Früchte tragen, ruhen. Es wird sich im Kreislauf der Jahreszeiten drehen: wachsen, reifen und ruhen, immer von Neuem, bis es zur letzten Ruhe gerufen wird. Doch das Spiel ist niemals aus, denn wie die Musik ist auch das Leben unsterblich. Die Musik kann verklingen, doch immer wieder lässt sie sich neu zum Leben erwecken, indem ein Musiker sie aufs Neue zum Klingen bringt. Auch mit jeder Geburt eines Kindes wird das Leben aufs Neue erweckt. Die Musik, sie ist ein körperloses Ding; als ob sie reine Seele wäre. Gerade ist sie entstanden, schon ist sie wieder verklungen. Ach, wie flüchtig! Doch auch wie nichtig? Schnell ist die Musik verklungen, und schnell ist das Leben verronnen.
Michael Franck beweint die Flüchtigkeit und die Nichtigkeit allen Lebens, allen menschlichen Wirkens und allen menschlichen Strebens.
Mit der Flüchtigkeit geht die Nichtigkeit einher, solange der Mensch ohne Gott wirkt.
Johann Sebastian Bach vertonte das Kirchenlied von 1652 in seiner Kantate BWV 26.
Das ruhelose Schaffen des Menschen wird durch aufgeregt durcheinander treibenden Sechzehntel-Passagen in den Instrumenten dargestellt, während engelsgleiche Knabenstimmen den Choral darüber singen. Tiefe Männerstimmen fauchen ein irdisches „Ach wie nichtig“ dazwischen und zeigen mit ihrer Aggression eine von Gott abgewandte Haltung.
Doch gerade diese Abwendung vom Göttlichen lässt das Menschenleben nichtig erscheinen. Und so ist tatsächlich im geschäftigen Treiben des Menschen wenig zu finden, das beseelt ist und nach Ewigkeit klingt. Denn nur die Seele ist ewig; nur das Körperliche ist flüchtig.
Wie viel wird heute als Musik ausgegeben? Vieles wird heute als Musik bezeichnet, doch wie viel Musik davon ist wirklich beseelt; das, was Musik doch ausmacht? Auch über das Leben können wir fragen: Wie viele Leben sind wirklich gelebt? Wie viele Leben sind wirklich beseelt, - das, was das Leben doch ausmacht?
Die moderne Technik erlaubt es uns Menschen Musik zu konservieren; haltbar zu machen - Sie dem Tod scheinbar zu entreißen. Das flüchtige Wesen der Musik wird eingefangen wie ein Schmetterling auf einer Nadel, das Lachen auf dem Foto oder der Duft einer Rose in einem Flacon. Tatsächlich; wir erhalten Etwas von diesen flüchtigen Wesen, doch erhalten wir sie am Leben?
Oder opfern wir vielmehr ihre Seele dem Teufel, wenn wir versuchen ihre Unsterblichkeit zu erzwingen? Was bedeutet es zu leben? Gehört es nicht zum Leben dazu, dass es flüchtig ist? Ist es nicht ein Merkmal der Musik, dass sie verklingt? Wir tun uns schwer damit, die Dinge loszulassen; - und genau damit hindern wir uns am Leben. Wir hindern uns daran zu klingen, zu schwingen und unsterblich zu werden. Wie eine Kantate, eine Sonate oder eine Partita von Johann Sebastian Bach. Wie viel Leben, wie viel unsterbliches Leben steckt in seinen Werken. Hätte Bach seine Musik auch am Leben erhalten können, wenn er sie auf einem Tonträger für die Nachwelt hätte konservieren können? Hätten wir vor lauter „Darm und Holz“, das mit dem Instrumentarium der damaligen Zeit bei der Verkörperlichung seiner Musik mitgeschwungen haben muss, das Leben in seiner Musik überhaupt erkannt? Alt und verstaubt wäre sie wohl nicht erst jetzt, sondern auch in den letzten Jahrhunderten schon erschienen. Selbst Bachs Söhne und deren folgende Generationen hätten an „Altvater Bach“ nicht viel Lebendigkeit entdecken mögen. Ist aber nicht gerade das Wesen des Lebens, dass es immer wieder geboren werden muss; dass es immer wieder neu zum Leben erweckt werden muss? Das Wesen des Lebens lässt sich in der Musik so wundervoll betrachten. Die Flüchtigkeit erst gibt ihm die Aufmerksamkeit, die es unsterblich macht. Nehmen wir eine CD mit wundervoller Musik. Wir hören sie im Auto, auf dem Crosstrainer, wo immer wir mögen, wann immer wir wollen. Immer klingt sie gleich. Objektiv. Doch, wie oft schenken wir ihr unsere ungeteilte Aufmerksamkeit? Im Auto, das wäre gefährlich, und auch beim Sport wird der Schlag unseres Herzens nicht von der Musik bestimmt. Meist nur hören wir sie nebenbei. Mit dem Leben ist es genauso. Immer wieder denke ich: wir leben nur so nebenbei. Neben dem Shoppen, neben dem Fernsehen. Neben der Arbeit und neben der Freizeit.
Als Musiker versucht man immer wieder die Musik einzufangen. Übe ich Johann Sebastian Bachs Ciaccona für Violine solo, und es gelingt mir einer Passage Leben einzuhauchen, so wünsche ich mir im selben Moment, sie möge einfrieren und mir für ewig erhalten bleiben. Doch gerade mit diesem Wunsch entreiße ich ihr den kleinen Funken an Leben, welche die Musik in jenem Moment hatte. Und sie stirbt. Gelingt es mir jedoch das Verklingen der Musik zuzulassen, so nehme ich sie für den Augenblick auf, für den sie erschaffen wurde, und für kurze Zeit erwacht sie zum Leben – und wird unsterblich.
Wie sehr wünsche ich mir, diese Unsterblichkeit teilen zu können. Wie sehr möchte ich diese intensiv mit Leben gefüllte Zeit teilen. Doch Leben kann man nicht teilen. Wir können den anderen Menschen nur beim Leben zusehen. Wirklich leben können wir nur selbst. Im Konzertsaal können wir dem Musiker zusehen und unsere Sehnsucht nach wahrem Leben schüren. Er kann in uns mit seiner Musik die Sehnsucht nach dem Leben wecken, und das kann uns durchaus Leben schenken; aber leben müssen wir schon selbst. Er kann uns mit seiner Musik belehren, was das Leben ausmacht; Er kann Gefühle in uns wecken und den Wunsch nach Leben - doch nur bis wir den Saal verlassen; danach wird dieses Leben nach und nach verblassen. Unsterblichkeit hat nur der Künstler selber erhalten. Bestimmt wird er in unserer Erinnerung bleiben. Doch wir selbst? Passives Leben ist nicht möglich; „gelebt zu werden“ wäre die passive Form des Lebens, und dies hat mit erfülltem Leben nichts zu tun.
Nur aktives Leben ist gelebtes Leben.
Wir kommen hiermit zu der zweiten unumstößlichen Eigenschaft von Leben: neben der Flüchtigkeit zeichnet das Leben aus, dass es aktiv ist.
Wie sehr ist unser heutiges Leben passiv geworden. Wir erledigen die Aufgaben unserer Vorgesetzten, nehmen in der Kantine eine fertige Mahlzeit ein, oder wärmen sie uns in der Mikrowelle auf. Nach getaner Arbeit lassen wir uns von dem Automobil wieder nach Hause fahren und lassen uns vom Fernsehen berieseln. Wir verlieren uns in den Geschichten fremder Menschen, die uns ein Leben vorgaukeln, dass es gar nicht gibt. Romanhelden, unsterblich sie selbst, hindern uns an unserem eigenen Leben. Und nach und nach fühlen wir, wie es verblasst, verklingt und verfliegt. Alle Versuche sein Verblassen aufzuhalten müssen scheitern. Make up, das Foto aus dem Urlaub, - nichts kann seine Flüchtigkeit aufhalten, sondern lediglich die Wehmut stärken. Unser Leben ist oft so von Schnelligkeit und Effizienz geprägt, in 16 tel oder gar 32tel Passagen hetzen wir durchs Leben. Ermüdet und ermattet, sinken wir am Abend auf das Sofa und lassen uns von der Bequemlichkeit gefangen nehmen. Scheinbar aktiv haben wir einen weiteren Tag hinter uns gebracht und brauchen nun die verdiente Erholung. Vielleicht haben wir den ganzen Tag nur auf unserem Bürostuhl gesessen. Die Rückenlehne auf „aktiv“ gestellt, um den Körper nicht zu sehr durch das einseitige Sitzen vor dem Computer zu belasten. Doch der Geist war geschäftig, aufgeregt und von tausend Gedanken gefangen genommen. Wenn wir am Abend nach Hause kommen sollten wir die Dinge umdrehen. Der Geist sollte zur Ruhe kommen und der Körper in Bewegung. Doch die Gedanken lassen uns oft nicht los, oder wir zerstreuen sie noch weiter, in dem wir durch das Fernsehprogramm zappen oder uns in einer anderen Ablenkung verlieren. Wie die Streicher und Bläser der Bachkantate greifen unsere Gedanken ineinander und kommen nicht zur Ruhe. Wir finden nicht die Ruhe und die Muße, um zu hören, was der Choral über unserem Leben singt.
Und eh wir uns versehen ist die Zeit verronnen. Sie mit wahrem Leben zu füllen, dazu fehlte uns die Muße.
Auch die Musik verdient ihren Namen nur, wenn wir ihr die Muße auch zugestehen.
Die Musik ist eine Kunst. Doch das Leben ist eine noch viel größere Kunst.
Um Musik zu beseelen, bedürfen wir der Gnade Gottes. Eine noch größere Gnade erfahren wir, wenn wir unser Leben beseelen.
Nicht nur der Musiker, jeder Künstler weiß, wie schwer es ist, seinen Beruf ohne die notwendige Inspiration ausüben zu müssen. Immer wieder üben wir uns in der Technik, in der Fähigkeit unsere Gedanken in Musik zu fassen. Doch oft bleiben die Gedanken aus. Es fehlt uns an Inspiration. Inspiration, das verrät uns das Wort, bedeutet, dass wir der Sache Geist einhauchen. Doch um einem Kunstwerk, einem künstlerischen Schaffen, Geist einhauchen zu können, müssen wir selbst diesen heiligen Geist empfangen. Doch Gott ist nicht verschwenderisch mit seinem Geist, so zumindest muss es uns vorkommen, wenn wir vor unserem Notenpult stehen und unseren Geist in der Musik ausschütten wollen. Jeder Musiker kennt das Gefühl von Leere. Und obwohl wir von einer Sache begeistert sind, gelingt es uns nicht, diesen Geist in Töne zu formen. Für mich macht diese Machtlosigkeit, der jeder Künstler sich beizeiten ausgesetzt fühlt deutlich, wie sehr wir einer höheren Gnade bedürfen. Lange habe ich mich auf die Suche nach dem „schnell zugänglichen Geist“ gemacht. Wie man in einem Supermarkt das Nötigste und mehr zum Leben einkaufen kann, so wünscht sich jeder Künstler auch den schnellstmöglichen Zugang zur Inspiration. Doch es gibt so einige Dinge, die wir nicht käuflich erwerben können. Und dazu gehört die Inspiration, die Begeisterung und die Gnade diese zu empfangen.
Wir finden den heiligen Geist nicht in der Geschäftigkeit unseres Lebens. Wir können ihn nicht erzwingen, in dem wir uns immer mehr anstrengen; ihn immer mehr suchen. Ob Künstler oder sonst ein Mensch, wie können den heiligen Geist nur empfangen. Um die Gnade der Inspiration zu empfangen müssen wir uns nur dafür öffnen, und der göttliche Geist wird uns durchströmen und die Musik zum Leben erwecken. Je mehr wir versuchen, ihn einzufangen, desto mehr wird er uns sein flüchtiges Wesen vor Augen halten. Wir können ihn nicht erzwingen, je mehr wir es versuchen, um so mehr wird er uns entgleiten.
Wieder lehrt uns die Musik, wie sehr wir das Flüchtige benötigen, um wirklich zu leben. Je mehr wir versuchen ein Kunstwerk zu erschaffen, desto mehr verlieren wie es.
Der heilige Geist wird auch oft als Tröster bezeichnet. Oft werden wir in der Not gezwungen, etwas loszulassen. Wenn wir glauben alles zu verlieren oder sogar alles verloren zu haben, so öffnen wir uns in diesem Verlust für die Suche nach etwas Höherem als uns selbst. Wir suchen Trost und sind offen für die Gnade, die uns zum Kern unserer Seele führt.
Erst wenn wir loslassen erhalten wir neuen Raum, der sich füllen lässt mit Geist, mit Inspiration mit Muße und letztendlich Glück und Zufriedenheit.
So flüchtig das Leben ist, so sehr braucht es seine Zeit. Dies gilt insbesondere für die Kindheit, für die Jugend, für das Präludium.
Ein Mensch lernt so viel in den ersten Jahren seines Lebens, wie niemals mehr im Laufe der Zeit. In diesen ersten Jahren ist das Kind noch vollkommen offen für das, was es erwartet. Und das besondere ist, dass es selbst nichts erwartet. Genau diese Offenheit ist es, die das uneingeschränkte Lernen erst möglich macht. Das Kind muss nichts loslassen, weil es sich noch auf nichts eingelassen hat, das es in irgendeiner Weise einschränken würde. Es versucht nichts, und es erwartet nichts. Sein Geist ist offen für alles, was kommen mag. Es vertraut auf sich selbst, seine Eltern und auf Gott. Doch sein Geist ist noch offen und unvoreingenommen. Es ist offen, auf welchen Gott es vertraut. Je nachdem, wo es aufwächst, glaubt das Kind seinen Eltern und seiner Gemeinschaft, auf welchen Gott es vertrauen kann. Je nach dem, wo und wann es aufwächst, vertraut es auf Zeus, auf Gott, auf Allah, Buddah oder einfach auf die Natur. Das Kind hat bereits die Weisheit in sich, dass es nur eine göttliche Kraft gibt. Es schert sich nicht um Namen und Bezeichnungen. Es kümmert sich noch nicht um Zeremonien, es lässt sich nicht einengen. Stets ist es nur offen und voller Vertrauen. Und in diesem Vertrauen ist ein gewaltiger Platz frei für die uneingeschränkte Neugier. Sein Geist ist frei für alles neue, was kommen mag. Sein Geist ist frei, um zu lernen, wie das Leben funktioniert; das wahre Leben, das gelebte Leben. Aber auch für scheinbares Leben. Es ist für alles offen. Es vertraut seinen Erziehungsberechtigten, dass sie ihm das Leben lehren. Und das Vertrauen des Kindes ist zugleich unsere große Verantwortung. Sein Vertrauen macht ihm Platz für Mut, für Neugier und für die Phantasie. Es ist offen für all die Eigenschaften, die uns das Präludium symbolisiert.
Es ist offen, heiligen Geist zu empfangen. Man könnte auch sagen, es ist offen für Begeisterung. In diesem Zustand der Begeisterung ist Lernen möglich. Und je begeisterter ein Mensch ist, desto mehr wird er lernen. Der Hirnforscher Gerald Hüther bestätigt, dass, umgekehrt, Lernen nur mit Begeisterung möglich ist. Kinder, noch offen für alles und voller Neugier, lernen am besten. Doch irgendwann werden sie ihrer Begeisterung beraubt. Durch zu viel Kritik, durch Reizüberflutung und dadurch, dass sie sich ihrer Selbstwirksamkeit nicht bewusst werden können, weil sie alles sofort bekommen und nicht an ihren Grenzen wachsen können. Was aber ist diese Begeisterung, wenn sie eine so enorme Kraft mit sich bringt, Menschen lernen, ja Menschen wachsen zu lassen. Begeisterung besitzt genau das, was uns er Zeitgeist so oft entbehrt. „Geist“. Sich zu begeistern bedeutet, etwas einen Geist zuzusprechen. Sich begeistern zu lassen heißt, die Sache von der man begeistert ist auf gewisse Weise heilig zu sprechen. Reflexiv bedeutet Begeisterung aber vor allem, dass diese heilige Sache, der wir uns zuwenden uns begeistert, uns Geist und Sinn gibt und damit uns heilig macht. Begeisterung lässt uns wachsen, weil sie uns Gott ein weiteres Stück ähnlicher macht. Begeisterung lässt Göttlichkeit in uns spiegeln. In der Fülle unserer Welt fällt die Suche nach dem Sinn oft schwer. Es fällt schwerer, sich auf eine Sache so tief und konzentriert einzulassen, dass man bis zu ihrem Inneren, ihrem Kern oder eben zu ihrem Geist vordringt. Wenn man den Sinn nicht sofort finden kann ist es oft schwer sich für eine Sache zu begeistern. In unserer schnelllebigen Zeit fehlt so oft die Fähigkeit zur Muße, die auf der Suche nach dem Sinn notwendig ist. Diese aber braucht man unbedingt, um sich auf die Suche nach dem Sinn zu begeben.
Das Präludium fehlt im Konzertsaal. Es fehlt aber auch die Zeit, in unserer Beschäftigung Sinn zu finden. Der Saal bleibt stumm, und auch unser Leben verpasst die Gelegenheit, zu klingen.
Alles zu Lernende wird ohne diese Muße nur an der äußersten Oberfläche angekratzt. So wie ein Mensch oft nach seinem Äußeren beurteilt wird, so wird auch eine Sache nach Kenntnisnahme der Oberfläche beurteilt. Der Kern bleibt unentdeckt. Der Geist der Dinge bleibt verschlossen; und die Begeisterung hat keine Chance.
Das Präludium ist ein Satz in unserem Leben, der uns genau die Möglichkeiten bietet, die wir benötigen, um begeistert zu werden. Er ist geprägt von all den Bedürfnissen, die unsere Kinder in ihren ersten Lebensjahren haben. Das Präludium ist ein improvisierter Satz. Er verlangt vom Musiker Mut und Spontanität. Er scheint sich nicht an Normen zu halten, er folgt keinen strengen Regeln und probiert sich in Figurationen, schnellen Läufen, und waghalsigen Sprüngen aus. Wie Pipi Langstrumpf verspricht er die phantastischsten Dinge, ist freigiebig und großzügig in allem, was die Musik zu bieten hat. Das Präludium ist reines Spiel. Es ist ungezwungen, fühlt sich frei und leicht wie ein Singvögelchen im Baum. Es trällert hoch und runter, es bewegt sich durch die Lüfte ohne jegliche Bedürfnisse. Es spielt um des Spielens Willen. Die Improvisation verlangt dem Musiker höchste Aufmerksamkeit ab. Sie birgt etliche Gefahren. Der Musiker könnte sich verlaufen, seine Sprünge könnten missglücken, die Läufe ihn in die Irre leiten. So spontan die Musik entsteht, so leicht kann sie missglücken. Nur mit höchster Aufmerksamkeit ist der Musiker den Anforderungen des Präludiums gewachsen. Er darf nicht festhalten an hübschen Figuren, er muss stets weiter voranschreiten, sich ausprobieren, so viele Tonarten wie möglich streifen und erkunden. Doch muss er am Ende wieder zurückfinden. Er darf sich nicht verlieren in der Wildnis der Harmonik. Immer muss er gewiss sein, dass er am Ende heimkehren darf. Wie eine Mutter, die auf die Rückkehr ihres Kindes wartet, wenn es draußen in Wald und Feld unterwegs war, so wartet auch die Grundtonart unseres Präludium darauf, dass der Virtuose zu ihr zurückkehren wird. Der Künstler vertraut, dass sie beharrlich auf ihn warten und ihn erwartungsvoll willkommen heißen wird. Nur diese Gewissheit gibt dem Künstler das nötige Vertrauen, um mutig durch das Präludium zu kommen.
Genauso ist es mit den Kindern. In ihrem Präludium muss das freie Spielen dominieren. Sie müssen sich ausprobieren. Sie müssen toben, klettern und herunterfallen. Sie streifen durch Wiesen und Wälder, erkunden Bäche und Felder. Sie schenken den kleinsten Dingen am Wegesrand Aufmerksamkeit. Sie kennen keine Normen und keine Gesetzte. Sie sind voller Mut und Vertrauen. Sie sind sich sicher, dass sie nach ihren Abenteuern zurückkehren dürfen in die sicheren Gefilde der Familie und der ihnen vertrauten Umgebung.
Wie die Kinder von ihrer Mutter empfangen werden, wenn sie zurückkommen, so wartet auch Gott auf unsere Heimkehr. Seien wir seine Kinder im wahrsten Sinne und sehen wir das Leben auf der Erde als das Präludium von etwas Größerem, das auf uns warten mag.