Wenn die Angst uns am Leben hindert
...und warum Abgrenzung ein Zeichen von Liebe ist.
"die Würde des Menschen ist unantastbar"
Zuckergeister haben Probleme mit der Abgrenzung. Hochsensible, emphatische Menschen fürchten, dass eine Abgrenzung dazu führen könnte, dass der andere denkt, man möge ihn nicht. Und gerade in der Liebe können sich Zuckergeister oft nicht von ihrem Partner abgrenzen. Was genau aber bedeutet es, sich abzugrenzen wirklich?
Oft wird Abgrenzung als Ablehnung falsch verstanden. Zumeist fürchtet man, gleichgültig zu wirken. Man möchte dem anderen aber seine Zuneigung beweisen. Zuneigung, meinen wir, zeige sich in Mitgefühl. Leider bewirkt dieses Mitgefühl oft, dass wir mit dem Anderen tatsächlich „mit-fühlen“. Wir fühlen selbst das Gefühl, welches er uns spiegelt. Zuckergeister haben sehr aktive Spiegelneuronen, so dass wir viele fremde Gefühle und Energien wahrnehmen und - in uns aufnehmen; sie eben selber fühlen. Zuckergeister fühlen also sehr viele Gefühle, oft zur gleichen Zeit, zum Beispiel, wenn wir in einer großen Gruppen unsere Fühler nach außen richten. Die zu verarbeitenden Gefühle können dann so überfordern, dass wir endlich die Schranke dicht machen und uns endlich abgrenzen. Wir werden irgendwann gezwungen uns abzugrenzen. Wenn das Nervensystem immer wieder überfordert wird, bricht es irgendwann zusammen, so dass man gar nichts mehr fühlt. Hat sich das Nervensystem erholt, so setzen wir uns erneut den emotionalen Reizen der Mitmenschen aus, und die Achterbahnfahrt zwischen „zu viel fühlen“ und „zu wenig fühlen“ nimmt ihren Lauf. Es beginnt ein auf und ab zwischen dem Gefühl von Chaos im Gehirn und einem Zustand der Starre, eines Kurzschlusses. Alle Lichter gehen aus, weil die Leitungen überfrachtet waren. Nichts geht mehr und wir fallen in Lethargie. Dieses Auf und Ab führt zu einer chronischen Erschöpfung. Die Starre kann immer weniger aufgelöst werden, weil uns die Mittel dazu fehlen. Wir „brennen durch“. Man erlebt dann ein emotionales Burnout. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Natürlich kann man mit Meditationstechniken, spirituellen Übungen, Entspannungsübungen usw. die Starre immer wieder durchbrechen, doch bekämpfen wir damit hauptsächlich Symptome, anstatt die Ursache endlich auszuschalten. Natürlich sind wir unseren Mitmenschen ausgesetzt und die Maßnahme, die die meisten Zuckergeister ergreifen ist nicht zielführend, nämlich sich zurückzuziehen und zu isolieren. Andere gehen auf Angriff und spüren starke Wut bishin zur Aggression. Sie fletschen die Zähne, um den anderen abzuwehren - um sozusagen zu fordern, dass der andere uns nicht zu nahe kommt, er sich also von uns abgrenzt, so, dass wir uns gar nicht erst von ihm abgrenzen müssen. Wenn wir den Anderen aus unserer eigenen Überforderung heraus anschnauzen, dann verweigern wir damit die Verantwortung für uns selber; wir übertragen die Verantwortung auf den anderen, der sich von uns zurückziehen soll. Das Problem an der Sache ist, dass wir ja genau das nicht wollen! Als Herdentierchen haben wir diese hyperaktiven Spiegelneuronen ja erst entwickelt, gerade damit wir nicht alleine sind. Damit wir uns anpassen können, eingliedern in die Gesellschaft. Mit unserer mangelnden Abgrenzung bewirken wir erst, dass wir aus der Herde ausgestoßen werden. Diesem Ausstoß zuvorzukommen, indem wir uns isolieren ist auch nicht zielführend. Die Herde zieht weiter, während wir in unserer Höhle versauern. Flucht und Kampf sind also nicht die Mittel der Wahl, um uns sinnvoll abzugrenzen!
Schauen wir uns also an, welche Möglichkeit uns bleibt, uns gesund abzugrenzen, ohne einen „Liebesverlust“ zu erleiden. Da Stillstand, Kampf und Flucht die Maßnahmen bei Todesangst sind, müssen wir zunächst aus der Angst herausfinden. Wenn jedoch das Gehirn vor Überforderung glüht, müssen wir dafür sorgen, dass wir gar nicht erst in diesen Zustand geraten. Wir müssen uns also abgrenzen, bevor das System überlastet ist durchbrennt. Wir denken, dass unsere Abgrenzung von den Gefühlen des Anderen einen Liebesverlust bewirken könnte. Vor diesem Liebesverlust haben wir Angst, denn Liebe ist das Grundelexier des Lebens. Liebe zu verlieren bedeutet unseren Tod. Kaum ein Schmerz ist daher so schmerzhaft wird er Verlust einer Liebe, kaum ein Kummer so schmerzhaft wird der Liebeskummer. Zuckergeister haben ein besonders starkes Bedürfnis nach Liebe, denn Liebe bedeutet Verbindung, Sicherheit und Gemeinschaft. Säuglinge sind auf diese Verbindung zu einer Bezugsperson existenziell angewiesen. Beim Säugling ist die Liebe überlebensnotwendig. Fehlt sie, folgt Todesangst. Berechtigte Todesangst. Wurde diese Angst in der Kindheit früh geschürt, dadurch, dass die Liebe nicht greifbar war, rudimentär oder unzugänglich, dann sucht das Kind immer weiter danach. Bei jedem Menschen, auch bei Tieren und sogar bei Stofftieren! Es ist bedürftig nach Liebe. Es hungert danach. Leider bewirken wir mit diesem Hunger erneut, dass Menschen uns ablehnen, weil wir schwach erscheinen. Menschen aber fühlen sich zu straken Menschen hingezogen; zu Autoritäten. Und so ist der heimliche Wunsch des unerfüllten Zuckergeistes der nach Autorität. Er träumt davon, dass er nicht mehr die Gefühle und Energien des Gegenübers kompensieren und verarbeiten muss, sondern er möchte, dass er selber Einfluss auf den Anderen hat. Dieses erscheint unmöglich. (Hier führt der Weg dann schnell in einen vulnerablen Narzissmus)
Doch wissen wir, dass Zuckergeister eigentlich ein enormes Potential haben, mehr oft als ein „normaler“ Mensch! Und dieses Potential müssen wir nutzen. Durch dieses große Potential haben wir ein hochbegabtes Gehirn, was Empathie angeht. Wir verstehen Empathie nur falsch. Empathie bedeutet eben nicht, dass man die Gefühle absorbiert und versucht für den anderen zu verarbeiten und zu regulieren, und sie ihm quasi abzunehmen, sondern die Aufgabe besteht darin, den anderen zu verstehen. Empathie bedeutet nicht, dass man im wörtlichen Sinne mit dem Anderen mit-fühlt oder gar mit-leidet. Wir überschätzen uns selber, wenn wir denken, dass wir dem anderen seine Gefühle und sein Leid abnehmen könnten. Ihn vielleicht sogar davon heilen. Wir wollen ihm helfen, indem wir ihm Arbeit abnehmen. Wir erhoffen uns dadurch Zuwendung und Liebe. Aber das wird nicht passieren, und wir fragen uns warum. Wir fühlen eine Ohnmacht. Diese Ohnmacht führt weiter in den Teufelskreis der Verlustangst und damit in die Todesangst hinein. Tritt uns ein Mensch besonders liebevoll und nett gegenüber, wollen wir diese Liebe um jeden Preis festhalten. Bei einer sehr fürsorglichen Bezugsperson, zumeist der Mutter, fühlen wir uns besonders verpflichtet, diese Liebe zu erhalten - unsere Mutter glücklich zu machen, damit sie sich bloß nicht abwendet. Ist sie emotional nicht verfügbar, strengen wir uns noch mehr an, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Vielleicht ist es auch der Vater, dessen Liebe wir bewirken wollen. Fehlt jedoch der Zugang zu einer Bezugsperson, so versuchen wir Freunde zu finden, uns in Peergroups zugehörig zu fühlen. Wir fangen vielleicht sogar an, uns anzubiedern, uns regelrecht einzuschleimen, indem wir auffällig nett sind. Indem wir versuchen die Gefühle des anderen zu beeinflussen oder gar zu manipulieren. Ein Gegenüber spürt diese Hilferufe und wendet sich ab, wenn er meint die starken Bedürfnisse des Anderen nicht erfüllen zu können. Es bringt also gar nichts, auf die Gefühle des Anderen einwirken zu wollen. Wir können lediglich unsere eigenen Gefühle beeinflussen.
Dazu müssen wir uns als erstes unserer Gefühle bewusst werden. Wie ich in einem anderen Artikel geschrieben habe, werden wir uns unserer Gefühle über ein Gegenüber bewusst und können es nur durch die Übersetzung durch einen Anderen verstehen. Dazu ist unsere Empathie nämlich da: um die Gefühle des anderen zu verstehen. Wir müssen sie verstehen, damit wir uns selber verstehen. Diese Verantwortung, uns die richtigen Gefühle zu vermitteln, tragen die nahen Bezugspersonen. Sie haben die Aufgabe, uns in unsere Gefühlswelt einzuweisen und einzuführen. Wir haben diese Gefühle nicht, bevor wir sozusagen „inkarnieren“. Unsere Seele, unser Selbst braucht keine Gefühle, weil wir keinen Körper haben. Die Gefühle sind dazu da, unserem Körper und unserem Ego zu vermitteln, was es tun muss, um unserem Selbst und dessen Erfüllung zu dienen. Der Körper mit seinen Gefühlen steht im Dienste unserer Seele, und um diese sich erfüllen lassen zu können, muss unser Ego die irdischen Anforderungen und Bedingungen des Lebens sicherstellen. Das Ego mit seinem Körper und den Gefühlen dient der Seele, sich zu erfüllen. Die Gefühle sind also kein Selbstzweck, wie es Hedonisten gerne erhoffen, sondern sie haben eine Funktion. Die Funktion ist die Erfüllung des Selbstes, des Geistes, des Göttlichen in uns. Ein wertvoller Bekannter von mir, der Geigenbauer Martin Schleske, formulierte es mit den Worten: „Wie möchtest Du Gottes Liebe in die Welt bringen?“ Gottes Liebe in die Welt zu bringen bedeutet, Gottes Liebe durch DICH in die Welt fließen zu lassen. Wir werden damit zum Ebenbild Gottes. Diese Liebe, die wir in die Welt bringen, manifestiert unsere Heiligkeit.
Wir sollen also Liebe sein. Wir lassen die hohe Energie der Gottesliebe auf dieser Erde „Fleisch werden“. Dazu inkarnieren wir. Manchmal liest man, der Sinn des Lebens sei es, glücklich zu sein. Das ist richtig und falsch. Versteht man Glück als egoistisches Suchen nach positiven Gefühlen als Selbstzweck, so ist es falsch. Erkennt man „Glück“ jedoch als das Wesen der Liebe, als das Göttliche, als das Licht und die Kraft, die die Erde zu einer Glück-se(e)ligkeit erhebt, dann hat man den Sinn des Lebens gefunden.
Wie aber finden wir diese Glückseligkeit. Wir finden sie nicht „in“ unseren Gefühlen, aber wir finden sie „durch“ unsere Gefühle. Wir finden sie dadurch, dass wir unserer Gefühle befragen. Und zwar unsere eigenen Gefühle und nicht die Gefühle der Anderen. Hier liegt der Schlüssel - in dem Befragen unserer eigenen Gefühle. Stets müssen wir uns die Frage stellen: „Was, liebes Gefühl, möchtest Du mir damit sagen“? Dazu müssen wir das Gefühl als erstes einmal wahrnehmen. Wenn wir immer mit der Wahrnehmung der fremden Gefühle beschäftigt sind, so bleibt kein Raum für unsere eigenen Gefühle. Leider betrügen wir uns oft selber und denken, es sei altruistisch, die Gefühlte des Nächsten vor unsere eigenen zu stellen. Wir denken, dass dies moralisches, ethisches, liebevolles Handeln sei. Dies ist die gewaltige Fehlannahme. Denn wir können nur dienend, demütig und altruistisch sein, wenn wir in unserer eigenen Kraft sind. Wenn wir stark sind. Wenn wir Gott ähnlich sind. Wenn wir eine Autorität sind. Wir dürfen nicht nur eine Autorität sein, wir müssen es sein wenn wir im Sinne Gottes leben wollen. Vielen fällt diese Stärke in sich anzunehmen sehr schwer! Wir denken, uns damit über andere zu erheben, arrogant zu sein, was wiederum einen Liebesverlust zur Folge haben könnte; Je ähnlicher wir aber dem Göttlichen werden, desto mehr sind wir eine Autorität und umso mehr erfüllt sich der Wunsch, mit unseren Gefühlen auf andere Einfluss nehmen zu können, anstatt der Spielball der Anderen zu werden.
Meine Schlussfolgerung ist daher diese: Autorität lässt uns zum Ebenbild Gottes werden. Gott ist Liebe und somit ist wahre Autorität Liebe. Abgrenzung ist also nicht die Verweigerung von Liebe, sondern die Bedingung von Liebe. Wir sehen hier auch, warum Kinder Grenzen brauchen: Damit wir es nicht zulassen, dass unsere eigenen Grenzen überschritten werden, so dass wir in die Aggression oder in den Rückzug fliehen müssen. Ich werde zu dem Thema „Grenzen“ in der Erziehung einen gesonderten Artikel verfassen.
Bleiben wir noch ein wenig bei der Autorität als eine Bedingung von Liebe.
Autorität verbinden wir oft mit Verantwortung. Verantwortung auch für die Gefühle von Anderen. Autorität scheint aber auch Macht über die Gefühle eines Anderen zu haben. Diese Macht aber hängt nicht von der sogenannten Autorität ab, sondern von der Fähigkeit des Andern, sich abzugrenzen, oder eben gerade von dem Unvermögen, sich abgrenzen zu können. Sind die Grenzen eines Menschen durchlässig, so gibt er Verantwortung an die andere Person ab. Diese andere Person erlangt damit Autorität über ihn. Anders siehst es aus, wenn ein Gegenüber, das Einfluss auf unsere Emotionen nehmen möchte, keinen Zugriff auf unsere Emotionen erhält. Wir erkennen die fremde Autorität nicht an. Wir übernehmen selber Verantwortung über unsere Gefühle, anstatt sie einem anderen Menschen zu übergeben. Nun hat ein Kind bis zum Trotzalter keine Möglichkeit, sich von den Eltern abzugrenzen, da es diese noch zum Überleben braucht. Hier trägt die Bezugsperson ein Höchstmaß an Verantwortung, das ihr von der Natur auferlegt wurde. Diese Autorität erkennt das Kind gezwungenermaßen an; es vertraut ihr. Es ist als ein reines göttliches Selbst voller Vertrauen, dass die Person, bei der es „gelandet“ ist, sie in das Leben einweisen wird. Problematisch wird es, wenn die Bezugsperson keine Autorität ist. Wenn sie die Verantwortung für sich selbst abgeben hat. Wenn sie es nicht geschafft hat ihre eigenen Gefühle zu deuten, weil sie ihr falsch vermittelt wurden. Wenn sie sich selber nicht als Gottes Ebenbild und damit nicht als Autorität erkannt hat und nun der Aufgabe einer natürlichen Autorität nicht gewachsen ist? Dann lernt das Kind nicht, mit seinem Ego umzugehen. Es lernt den Sinn seiner Gefühle gar nicht kennen. Wir fragen uns oft: wozu sind denn diese Gefühle überhaupt da? Wozu all der Schmerz, das Leid, die Angst? Wozu all der Frust, wozu aber auch die Freude, wenn danach umso größeres Leid folgt? Es liegt daran, dass wir nicht erkannt haben, dass Gefühle kein Selbstzweck, auch keine unnötigen Nebenerscheinungen von Ereignissen, die wir am liebsten verdrängen mögen, sind, sondern, dass sie uns etwas mitteilen wollen. Wenn wir Abgrenzung also als Verdrängen, „nicht hinschauen wollen“ missverstehen, dann geraten wir in eine Abwärtsspirale. Denn die Gefühle versetzen uns in eine Ohnmacht, wenn wir sie nicht regulieren, sondern in unser Unterbewusstes verlagern. Wir empfinden die emotionale Überforderung, da die Informationen, die die Gefühle in sich tragen, immer wieder von Neuem auf uns einströmen müssen, uns irgendwann regelrecht überfluten. Sie verschwinden nicht, wenn wir sie verdrängen, sondern sie verschwinden, wenn wir sie anhören.
Jedes Gefühl möchte uns etwas sagen - wir dürfen die Kommunikation nicht verweigern. Die Frage lautet: „Liebes Gefühl, was möchtest Du mir sagen“. Wie nehmen uns mit dieser Frage selbst an die Hand und nehmen Kontakt zu uns selber auf. Dies ist die so ominöse „Eigenliebe“, die jeder postuliert, aber niemand umzusetzen weiß. Eigenliebe ist also nicht der Kaffee, die Massage oder das Schaumbad, sondern Eigenliebe bedeutet, sich selbst anzuhören; sich selbst zuzuhören; sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken. Mit sich selbst zu kommunizieren. Sich selbst an die Hand zu nehmen, wie eine Mutter ihr Kind an die Hand nimmt. Eigenliebe heißt also, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Eigenliebe heißt, unsere eigene Autorität zu sein. Eigenliebe bedeutet, keine anderen Autoritäten über mir zu haben; sozusagen keine anderen Götter neben uns, niemandem den Zugriff auf unsere Gefühle zu gewähren. Eigenliebe heißt kurz gesagt, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, anstatt sie anderen zu überlassen. Wir überlassen unsere Verantwortung an andere, wenn wir ihre Gefühle über die eigenen stellen. Wir verlieren unsere Autorität, wenn wir fremde Meinungen übernehmen. Wenn wir fremde Ängste als die Unseren annehmen. Wenn wir fremde Bedürfnisse vor unseren eigenen erfüllen. Diese Eigenverantwortung, diese Selbstliebe bedeutet ganz und gar nicht Egoismus; im Gegenteil, sie ist die Bedingung von Liebe. Ich kann den anderen nur annehmen, wenn ich mich selber angenommen habe. Ich kann den Nächsten lieben wie mich selbst, wenn ich autonom bleibe. Ich kann nur helfen, wenn ich in meiner Stärke bin. Ein Hochempath möchte Einfluss auf die Gefühle anderen Menschen nehmen. Wir erheben uns damit über den Anderen, in dem wir ihn verändern wollen. Die Absicht mag noch so edel sein - ihr Ziel ist jedoch der Versuch, die Verantwortung für den anderen zu übernehmen. Wie entmündigen unser Gegenüber, wenn wir Einfluss auf seine Gefühle nehmen wollen. Wir „wollen“ ihn manipulieren, so dass er uns zugewandt ist; wir wollen seine Liebe zu uns erwirken. Wie wollen ihm die Verantwortung über sich selbst nicht zugestehen, wir möchten die Autorität über ihn. Dieser Mechanismus ist uns nicht bewusst, aber er ist zutiefst egoistisch. Er ist das Gegenteil von Empathie und Liebe, da er eigennützig ist. Wir wollen etwas - seine Liebe, seine Zuneigung, seine Aufmerksamkeit. Wir wollen aber auch, dass er im Gegensatz Verantwortung für uns übernimmt; dass er dafür sorgt, dass wir uns gut fühlen. Er soll unsere Bedürfnisse befriedigen. Die Dinge verhalten sich also genau umgekehrt, als es auf den ersten Blick scheint. Abgrenzung erst macht Liebe möglich. Wenn wir uns nicht abgrenzen, dann wollen wir konsumieren anstatt zu geben. Und da wir ständig auf der Suche nach Annahme sind, sind wir ständig auf der Suche und konsumieren fremde Gefühle, fremde Meinungen, fremde Werte und fremde Prinzipien. Wir erfüllen dazu fremde Bedürfnisse, fremde Erwartungen und fremde Ideologien. Wir übergeben die Verantwortung an unser Umfeld. Wir verleugnen damit die Verantwortung für unsere Gefühle. Für unsere Meinungen, für unsere Bedürfnisse und unsere Werte. Wir sind emotional von all den anderen Menschen abhängig. Ist die Tochter schlecht gelaunt, so wollen wir sie glücklich sehen. Wie versuchen, aus gutem Willen heraus, auf ihre Gefühle einzuwirken. Wie denken: „sie soll dieses schlechte Gefühl nicht haben.“ Wir spüren aber auch die Ohnmacht, wenn wir keinen Zugang auf ihren Zustand erhalten. Wir werden vielleicht wütend, weil sie ja nicht auf uns hören will. Wir werden wütend, weil wir unsere Ohnmacht spüren. Wir versuchen auf sie einzureden, sie zu belehren und sagen „wir wollen doch nur dein Bestes“. Aber das Kind scheint taub zu sein gegenüber unserer Autorität. Und das ist oft gut so. Denn das Kind fühlt, wie es fühlt, weil dieses Gefühl eine Nachricht hat. An das Kind. Nicht an uns. Und wenn wir versuchen, dieses Gefühl wegzudrängen, weil wir ihm Leid ersparen wollen, dann wollen wir bewirken, dass das Kind auf uns hört - und nicht auf das Gefühl, also auf sich selbst. Dies ist keine Liebe. Es ist falsch verstandene Liebe. Es ist missverstandene Autorität. Wir kappen dem Kind die Flügel. Wir erheben uns über das Kind, weil wir ihm nicht zutrauen, autonom richtig zu handeln. Wir verweigern ihm die eigene Autorität, wir nehmen ihm Verantwortung ab, entmündigen es und verhindern dadurch letztendlich seine Selbstliebe. Nur Autoritäten sind stark. Liebe ist es, das Kind stark zu sehen und stark zu machen. Liebe ist, ihm die Verantwortung für sich selber zu überlassen, da nur das Kind selber die Berufung seiner Seele zu erkennen vermag. All die guten Ratschläge hemmen das Kind und seine Autonomie. In der guten Absicht, es zu stärken, halten wir es schwach. Es bleibt auf eine fremde Autorität angewiesen, weil es gehindert wurde, auf seine eigenen Gefühle zu achten. Wir halten es damit emotional von uns abhängig. Liebe aber lässt frei. Liebe macht stark. Wahre Liebe vermag das göttliche Selbst des Kindes hervorzubringen. Der Schlüssel liegt in der Kommunikation mit uns selbst. Wir erlangen wahre Liebe, wenn wir uns selber so sehr lieben, dass wir uns von der Tochter so abgrenzen können, dass wir ihre Gefühle nicht mehr kompensieren wollen. Indem wir sie freilassen. Nun kann man einwenden, ob das nicht Gleichgültigkeit sei? Es ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit, wenn das Abgrenzen bewusst geschieht. Es ist keine Gleichgültigkeit, wenn wir für das Kind zu einer ebenbürtigen Autorität werden, die als Vorbild dienen kann. Denn wie ich bereits gesagt hatte, benötigen Kinder in den ersten Lebensjahren die Führung ihrer Bezugspersonen. Sie benötigen eine Autorität. Autorität erlangen wir nur durch Autonomie - durch Abgrenzung.
Der entscheidende Punkt aber, um nicht zum Egoisten zu werden, ist: Abgrenzung ist nicht nur in Bezug auf den Anderen nötig. Man muss auch die Autorität über sich selbst erlangen, damit man emotional auch von sich selber nicht abhängig ist, und damit man seinen eigenen Gefühlen nicht ausgeliefert ist. Das heißt, wir hören das Gefühl an, fragen nach seiner Mitteilung und haften nicht an diesem Gefühl an. Es hat seine Aufgabe erfüllt (vorausgesetzt wir hören es an und ziehen daraus Konsequenzen, denn sonst wird es immer wieder anklopfen um sich mitzuteilen) und darf wieder gehen.
Wir haften an nichts an, wir sind autonom. Wir haften aber nicht nur an Gefühlen nicht an, wir können uns auch von anderen Stressoren abgrenzen. Vom Chaos im Haus, vom Wetter, von der Politik und von den Medien. Von den Bewertungen und Erwartungen Anderer, auch unserer eigenen, und auch von Illusionen. Eine der wichtigsten Autonomieräuber ist z.B. ein fremdes Zeitmanagement oder auch ein allgemeines Verpflichtungsgefühl. So kann es zum Beispiel großen Selbstverlust bedeuten, wenn wir zeitlichen Rahmenbedingungen genügen müssen. Oft sind diese gar nicht würdevoll einhaltbar. Auch dürfen wir uns von der Erwartung einer Person frei machen und abgrenzen, wenn es darum geht, in einer gewissen Zeit auf eine E-mail oder Textnachricht zu antworten. Dann sind wir wahrhaftig frei, weil kein Gefühl von Außen uns noch etwas sagen müsste. Oft setzen wir uns selber unter Druck - aus reiner Gewohnheit. Denn ein ungehörtes Gefühl, das immer wieder kommt, wird zur Gewohnheit. Es hat uns im Griff und wird zu einem chronischen Leid. Ein Gefühl von Hektik und Ungeduld kann sich im Alltag breit machen, wenn wir immer wieder fremden Zeitrahmen Folge leisten mussten. Diese chronischen Gefühle die oft ein Grundrauschen darstellen, brauchen Zeit, um wieder aufgelöst zu werden. Wir müssen immer wieder innehalten und sagen: Dies ist ein altes Gefühl. Bei einer universellen Angststörung müssen wir uns auch immer wieder sagen: „Es besteht im Moment keine Gefahr, es ist eine autonom gewordenen Angst, es ist eine alte Angst.“ Oft kann man sogar sagen, „es ist nicht meine Angst.“ Dies dürfen Menschen tun, die gezwungen waren, die Ängste einer engen Bezugsperson, oft z.B der Mutter zu kompensieren. Bei jedem Gefühl muss man sich also fragen: „Ist dieses Gefühl ein aktuelles oder ein chronisches Gefühl“? Was wollte es mir damals mitteilen?Und „war es überhaupt mein eigenes Gefühl? . Wenn es sich um alte Gefühle handelt, darf man sie nun endlich zu Wort kommen lassen und mit einer gewissen Vergebung verabschieden.
Wenn wir soweit sind, dass wir wirklich vollkommen autonom sind, wenn wir den Punkt erreicht haben, dass wir sogar von unseren eigenen Gefühlen selbst emotional unabhängig sind, dann können wir uns frei und vollkommen entscheiden, wie wir auf unser Umfeld reagieren. Dann entscheiden wir uns bewusst dazu, einen anderen Menschen nicht stundenlang auf unsere Antwort warten zu lassen, sondern stellen unsere eigenen Bedürfnisse für den anderen zurück. Wir erfüllen dann in voller Bewusstheit fremde Erwartungen, weil wir sie als sinnvoll und notwendig erachten. Wir unterstützen andere Menschen, können auf ihre Gefühle eingehen, weil wir das möchten. Wir können uns ihre Gefühle und Sorgen anhören und trösten. Aber wir tun dies nicht aus einer Bedürftigkeit heraus, nicht weil wir etwas daraus für uns gewinnen wollen, sondern aus rein gebender Natur - aus Liebe. Es gibt Menschen, die wir bewundern, weil sie Autoritäten für uns sind. Wir bewundern sie, weil sie so stark sind, dass wir ihre Autorität suchen, weil sie uns inspiriert. Sie hilft uns zu unserem besten Selbst zu werden. Diese Menschen strahlen wahre Größe aus. Sie sind lichtvolle Erscheinungen. Menschen, die dies vervollkommnen konnten, werden heilig gesprochen. Heilige sind Menschen, die durch ihre Person Gottes Liebe sich auf der Erde manifestieren lassen. Es sind Menschen, die der Welt gezeigt haben, wie sie Gottes Liebe auf die Erde gebracht haben. Manche erscheinen als Engel, so lichterfüllt sind sie. Diese Engel können nur Engel sein, weil sie sich von irdischen Phänomenen distanzieren können. Vom Ego, von irdischen Gefühlen und eben von einem Körper. Sie sind reine Lichtwesen. Sie sind das Licht Gottes. Sie sind Energie, die bewegt, die die Welt daran hindert unter all dem Leid, dem Schmerz und Unheil zu erstarren. Sie sorgen dafür, dass die Liebe auf der Erde die stärkste Macht ist, sie zeigen, was die Wahrheit ist.
Warum wissen wir das nicht mehr? Was hat uns von dieser Wahrheit entfernt, uns so auf Irrwege geführt, Liebe so pervertieren zu lassen. Emotionale Bedürftigkeit mit Liebe zu verwechseln?Meine Antwort ist: Die Verdrängung unserer Gefühle.
Der Grund für die verheerende Entwicklung auf unserem Planeten ist, dass wir die Bedeutung von Gefühlen nicht kennen, weil wir ihnen nie zugehört haben. Generationen haben ihre Emotionen überhört und ihre Angst und Einsamkeit an ihren Mitmenschen kompensiert. Wir leiden, weil wir Bedürftige bleiben, die nichts zu geben haben. So müssen sie fortwährend konsumieren; sich anreichern, sich bereichern - ihre innere Leere füllen. Sie beuten die Erde aus und ihre Mitmenschen. Die Natur. Sie definieren ihr Selbst über das Ego, das eigentlich nur dienen sollte. Körper und Gefühle sind Diener, doch sie versklaven die Seele des Menschen. Wir lassen uns versklaven, weil wir uns nicht selbst genug lieben, weil wir die Kommunikation mit uns selbst verweigern.
In der Kommunikation mit uns selbst erst erkennen wir unsere Würde. Jetzt erst ergibt der erste Artikel einen Sinn: Unsere Würde ist unantastbar. Unantastbarkeit ist eine Abgrenzung. Unsere Würde, unser Selbst, darf nicht berührt werden. Wenn wir uns selbst nicht abgrenzen, dann verletzen wir selbst unsere Grenze; - weil wir unsere Würde antasten lassen. Wir wollen aber selbst darüber entscheiden, von wem wir uns berühren lassen. Wenn wir unser Selbst also unantastbar machen sind wir bereit uns der Welt auszusetzen. Wir haben den Mut am Leben teilzunehmen. Wir müssen uns dann nicht mehr zurückziehen, isolieren, einmauern und verschanzen - vor der Welt und vor dem Leben verschließen. Wir haben die Stärke und den Mut am Leben teilzunehmen. Dann begegnen und erkennen wir Menschen und erkennen auch die Unantastbarkeit ihrer Würde. Nur auf dieser Basis entstehen Beziehungen auf Augenhöhe, Beziehungen in denen man sich gegenseitig berührt ohne die ständige Angst vor der Gefahr, verletzt zu werden. Es klingt paradox: Erst wenn wir uns abgrenzen, werden die Mauern, Masken und Fassaden fallen. Wir werden authentisch - wir werden wir selbst.
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