Zuckergeist
 

Leben in Harmonie mit der Dualität - die Musik als Allegorie für das Leben

 

Im Leben eines Musikers und auch dem einer Musikerin nimmt das Üben sehr viel Raum ein. Manche üben stundenlang, Anderen reichen wenige Minuten am Tag. Das Interessante dabei ist, dass das Können nicht unbedingt von der Quantität des Übens abhängig ist, sondern - oh Wunder - von der Qualität. Das mag erstmal selbstverständlich klingen, doch gibt es nicht wenige Musiker, die trotz fleißigem Üben weniger erreichen, als sie sich wünschen, während anderen die Musik scheinbar zufliegt.
Man ist dann geneigt, von „Genie“ zu sprechen. Man empfindet beim Genie eine Vollkommenheit. Ich möchte nun einmal der Frage nachgehen, wie man beim Üben in die Vollkommenheit findet - wie man das Genie in sich zum Leben erweckt. Gehen wir zuerst dem Begriff der Vollkommenheit nach. Die Chinesen sagen, es ist nicht „Eins“, nicht „Zwei“, sondern die 10 000 Dinge. Auch hierzulande symbolisiert das Überschreiten der Dualität die Vollkommenheit im Sinne der Dreifaltigkeit. Doch hilft es uns schon weiter, wenn wir vorerst in der irdischen Dualität „das Beste rausholen“. Wenn man an Dualität denkt, kommt eine Polarität in den Sinn. Eine Gegensätzlichkeit. In der Musik findet sie sich in starken Kontrasten, in Licht und Schatten, wie man es seit dem Barock gerne beschrieb, wenn man von laut und leise sprach. Aber auch im Wechsel von schnellen und langsamen Sätzen, von kantablen Arien und virtuosen Passagen. Der Kontrast erst macht die Musik lebendig. Auch ein Musiker wirkt charismatisch, wenn er eine gewisse Vielschichtigkeit an den Tag legt, also gesanglich zu Tränen rührt und im Nächsten Moment mit Virtuosität brilliert.
Wie erreichen wir als Musiker diese Vollkommenheit, die wir an den großen Interpreten bewundern? Wie müssen wir üben, wenn wir kein Genie sind oder dieses in uns noch nicht entdecken konnten, weil wir nicht richtig geübt haben?
Es liegt in der einseitigen Art zu üben. Es gibt zwar zahlreiche Strategien, das Üben sehr abwechslungs- und kontrastreich zu gestalten, doch fehlt in den meisten Strategien etwas Entscheidendes: Es liegt in der Unausgeglichenheit von Männlichkeit und Weiblichkeit. Auf diesen beiden Urprinzipien besteht alles Leben. Im Zusammenführen dieser polaren Gegensätze entsteht das „Runde“, das Vollkommene“ - das Genie. Ich wage also zu behaupten, dass das Genie sich dadurch auszeichnet, dass männliche und weibliche Anteile in ihm harmonieren  - keiner zu stark ist und keiner unterdrückt wird. Sieht man sich die großen Persönlichkeiten an, die man als Genie erkennt, so findet man starke Polaritäten in ihnen vereint. Vergleicht man einen Frederic Chopin mit einem Franz Liszt, so erscheint uns Liszt durchaus genial, aber vollkommener mutet Chopin an. Woran mag das liegen? Chopin verkörpert sehr viele weibliche Anteile in seinem Charakter. Bei Liszt scheine die Männlichen vorzuherrschen. Ein anderer sehr genialer Komponist ist Franz Schubert, der ebenfalls durch seine weichen Züge auffällt, genauso wie die Dichter der Romantik ein Gespür dafür hatten, Weiblichkeit in ihrem männlichen Körper und Geist Raum zu geben - beginnend mit den Genies der Epoche der Empfindsamkeit, durch die der Geniekult erst möglich wurde. Die Romantiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht allein auf den Verstand des aufgeklärten Menschen beschränken, sondern Gefühl, Naturverbundenheit und Intuition wert schätzen. Doch auch schon vorher zeigt sich der „moderne“ Mann viel weiblicher als der heutige. Die Garderobe, mit Rüschen und Zierrath geschmückt, war nicht peinlich oder kitschig, sondern Zeichen von Größe und Ansehen. Das Barockzeitalter, dessen Bezeichnung sogar auf der „Weiblichkeit“ des damaligen Geschmackes beruhte, basierte auf der Renaissance des goldenen Zeitalters der Antike, welches ebenfalls, wie Platons Kugelmenschen bezeugen, auf der Polarität zwischen Männlein und Weiblein beruhte.
Wollen wir nun also der Frage nachgehen, wie sich durch das Wissen der Bedeutung dieser Polarität unser Üben vervollkommnen lässt.
Um zuerst einmal zu beleuchten, wie das ausgewogene Üben nicht aussieht, stelle ich die männlichen und weiblichen Herangehensweisen an das Üben gegenüber. Viele werden erkennen, dass ihr Üben nicht harmonisch alle Anteile beider Listen beinhaltet, sondern, dass eine der beiden Kategorien vorherrscht. Sollte dies nicht der Fall sein, können sie gewiss sein, dass es sich bei Ihnen um einen begnadeten Musiker bzw. Eine begnadete Musikerin handelt. Auf dieser Basis gewinnt auch die Bezeichnung MusikerIn einen Sinn, weil jeder Mensch als MusikerIn oder Musiker*in beide Anteile, männliche und weibliche gleichermaßen verkörpert, ganz unabhängig von körperlichen Geschlecht.
Zunächst die männlichen Arten des Übens. Ich würde sagen, dass diese bei Profimusikern, sprich bei Studierenden und Orchestermusikern vorherrschen.
Männliches Üben beinhaltet ein erfolgsorientiertes Üben. Wie es in unserer Gesellschaft auch der Fall ist, scheint alles Tun sich auf ein Ziel auszurichten, welches in einer gewissen Zeit erreicht werden muss, um etwas Weitergehendes zu erreichen. Dieses Ziel kann ein Studienplatz, der Gewinn eines Wettbewerbs eine Prüfung oder eine Orchesterstelle sein. Auch das Ziel als Solist oder Solistin auftreten zu können wird strategisch verfolgt; vorausgesetzt, man verfügt über die Ausdauer, die Stärke und Zielstrebigkeit, um erfolgreich zu sein. Die Laufbahn eines Profimusikers erfordert folgende Eigenschaften:

 

 

Aktivität

Ausdauer
Belastbarkeit
Disziplin
Effektivität
Effizienz
Entscheidungswillen
Fokus
Handlungsbereitschaft
Klarheit
Konkurrenzdenken
Kontrolle
Konzentration
Leistungsbewusstsein
Mut
Reflektion
Stärke
Struktur
Verstand
Zielstrebigkeit

 

Dies sind die vorherrschenden Eigenschaften, welche gemeinhin in unsere Zeit zu Erfolg führen. Möglicherweise oder vielleicht auch unmöglich zu Erfüllung oder gar Vollkommenheit - denn - es fehlen die weiblichen Eigenschaften zu einem erfüllten Kugelmenschen in Platons Sinne:

 

Empfangen

Empfindsamkeit
Entspannung
Erschaffen, Gebähren
Gemeinschaft
Heilsamkeit
Hingabe
Inspiration
Intuition
Kreativität
Liebe und Herzöffnung
Loslassen
Medialität
Passivität, Geschehen lassen
Sinnlichkeit
Traum
Verbundenheit
Verletzlichkeit
Vertrauen
Weichheit

 

 

Hobbymusiker verfügen oft noch mehr über die weiblichen „Übequalitäten“, da sie kein Ziel verfolgen, sondern zur eigenen Freude und zum eigenen Genuss musizieren. Automatisch wird das Musizieren dann intuitiver, sinnlicher, genüsslicher und auch heilender. Die Liebe zur Musik wird nicht so leicht durch zu hohe Ansprüche erdrückt. Eine hohe Virtuosität erreichen jedoch auch Hobbymusiker, wenn sie eigenen Ansprüchen gerecht werden wollen, so dass Disziplin und Handlungsbereitschaft zu großen technischen Fertigkeiten führen kann.
Den wahren Musiker jedoch zeichnet aus, dass er beide Polaritäten vereint, dass er also kontrolliert, jedoch im richtigen Moment die Kontrolle abgibt und loslässt. Dass er über Ausdauer verfügt, aber auch pausiert und vertraut. Dass er im Ensemble aktiv führt, jedoch ebenso folgt. Dass er über eine Reflexionsfähigkeit verfügt, aber auch über Intuition. Dass er strukturiert vorgeht, jedoch sich auch dem Moment hingeben kann und kreativ bleibt. Indem er ein gewisses Konkurrenzdenken hat, um sich selbst zu mobilisieren, jedoch die Verbundenheit und die Herzöffnung nicht verliert. Viele üben auch so leistungsorientiert, dass das routinierte, zielgerichtete Üben zu Verkrampfungen führt. Sie versäumen es zu entspannen und erkennen nicht die Heilkraft, die in der Musik steckt. Auf der Bühne braucht der vollkommene Musiker Mut, doch er braucht besonders den Mut zur Verletzlichkeit, so dass er sich hingeben kann, die Kontrolle loslassen und vertrauen.
Ein Musiker oder eine Musikerin, die in der Verbindung der polaren Eigenschaften ihre männlichen und weiblichen Qualitäten verdient, wird zu einem platonischen „Kugelmenschen“ oder „Kugelmusiker“ einem vollkommenen Menschen und vollkommenen Musiker - zum Genie.
Was für das Üben am Instrument gilt, gilt insbesondere für das Leben selbst. Für mich ist das Leben eines Musikers eine Allegorie für das Lebens selbst.