Wie erkenne ich eine Hochbegabung?
Hochbegabte werden von ihrem Umfeld oft falsch eingeschätzt. So machen viele Hochbegabte von Kind an die Erfahrung von Ausgrenzung, Isolation und Einsamkeit. Wenn insbesondere die Eltern das Kind falsch einschätzen, kommt es zu einem enormen Leidensdruck. Da die Eltern als Vertrauensperson das Kind spiegeln sollten, nimmt das Kind ein falsches Selbstbild an - und entfremdet sich von sich selbst. Dies führte zu einer regelrechten Zerrissenheit.
Es ist eine Fehlannahme, dass sich ein Potential autonom entwicklen könnte, denn auch hochbegabte Menschen sind soziale Wesen, die auf die Integration in einer Gesellschaft überlebensnotwendig angewiesen sind. Werden sie „nicht gesehen“ so kommt das für einen Menschen einem Todesurteil gleich. Es bedeutet den größten Stress, sich nicht zugehörig zu fühlen, ausgegrenzt zu werden oder sich einsam und isoliert zu fühlen.
Wie der Musiker sein Talent nur durch konsequentes Üben, konstruktives Feedback, Lerntechniken und Vorbilder in seine Meisterschaft kommen kann, so braucht auch jedes andere Talent, jede „alltägliche“ Begabung, Führung, Zuspruch, Kritik und das Gefühl von Selbstwirksamkeit im eigenen Tun. Wie ein hochbegabter Musiker nur als Solist auf der Bühne steht, wenn er ein Orchester hat, das ihn stützt, ihn ins Rampenlicht stellt, mit ihm regelrecht interagiert, in Dissonanz und Wiedererlangen der Harmonie, so braucht jeder Mensch eine Gruppe von Menschen, die ihm hilft, sein ihm innewohnendes Licht zur Geltung bringen zu können.
Wenn wir bei dem Beispiel des Musikers, dem Solisten vor einem Orchester, bleiben, so wird deutlich, dass es notwendig ist, sich von anderen abzuheben. Nicht im Sinne einer Arroganz, sondern im Sinne einer Funktion, die ihren Teil zu dem größeren Ganzen beiträgt. Es ist für den Solisten notwendig, dass er sich von den andere abhebt. Und ja, das Orchester ist eine Masse - aber nicht im verurteilenden Sinn, sondern als tragende Kraft, als Gemeinsamkeit, die den Einzelnen eben auch Teil dieses größeren Ganzen werden lässt. Es gibt also Aufgaben in einer Gesellschaft, so wie sich die Vorstellung aus dem Tierreich durchgesetzt hat, dass es gewisse Verantwortungen in einer Gesellschaft gibt, die verschiedene Aufgaben an den Einzelnen stellen. Es gibt die hochsensiblen Tiere, die sich am Rande der Herde positionieren, um mit ihrer Hellfühligkeit und Weitsicht den Feind früher aufspüren zu können. Andere wiederum sind Leittiere, andere punkten im Kampf mit ihrer Muskelkraft, wieder andere haben die Schläue, den Feind abzulenken; um den Finger zu wickeln, während die anderen die Flucht ergreifen können. Überall funktionieren soziale Strukturen so, dass ihre einzelnen Mitglieder sinnvolle Aufgaben erfüllen, die ihrer Persönlichkeit entsprechen oder die, spiritueller ausgedrückt, ihrer Berufung entsprechen. Bleiben wir beim Bild des Orchesters. Was wäre, wenn der Solist mit seinem herausragenden Können Angst hätte, sich an den vorderen Rand des Podiums zu stellen. Was wäre, wenn er von den Orchestermusikern gemobbt, ausgeschlossen oder bloßgestellt würde? Das gesamte Gefüge würde zusammenbrechen. Nur im Miteinander und der Achtung eines jeden Einzelnen in seiner Funktion, seiner Berufung, ist ein Konzert durchführbar.
Selbstverständlich muss ein jeder auch seine Rolle erfüllen, und um dies zu tun, braucht jeder andere Verhaltensweisen. Es kann erforderlich sein, dass ein Musiker sich von der Gruppe erheben muss. Er muss lauter spielen. Er muss sich zeigen, sich präsentieren. Er muss sich verstärkter Kritik aussetzen. Er muss vielleicht mehr Mut haben oder noch besser - mehr Vertrauen. Weil er eben alleine da steht. Er ist in dieser Position darauf angewiesen, dass er auf die anderen vertrauen kann. Dass sie ihn tragen. Hinter ihm stehen. Dass sie ihm nicht in den Rücken fallen, dass sie die Aufgabe des Stützenden gewissenhaft erfüllen. Was passiert mit einem Orchestermusiker, der voller Neid auf den Solisten schielt, sich selber nicht gesehen fühlt? Er entwickelt einen Frust. Vielleicht Wut, Traurigkeit, nicht selber dort zu stehen. Er entwickelt Gefühle, die er anhören sollte und die ihm sagen: ich bin falsch hier im Tutti des Orchesters. „Ich könnte das auch“. Doch oft tut er es nicht, weil er das fürchtet, was einen jeden Menschen von seiner Berufung fern hält: Die Angst. Die Angst, zu versagen, eben nicht gestützt zu werden von den Anderen, ausgeschlossen zu werden, sich Kritik auszusetzen und letztendlich aus der Gruppe ausgestoßen, ausgelacht zu werden isoliert und einsam zu sein - und was bedeutet Einsamkeit als „Herdentier“ - den sicheren Tod. Seine Berufung zu leben lässt also eine Todesangst aufkommen, die einzig und allein darin besteht, in ihr zu versagen. Es fehlt an dem Vertrauen, dass man „Solist“ ist. Den Anforderungen genügt, „gut genug“ ist. Wirklich berufen. Die Angst liegt im mangelnden Selbstvertrauen und der mangelnden Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Kommen wir zurück auf den Hochbegabten. Er wird nicht „gesehen“. Nicht verstanden. Weil er anders ist. In seiner Berufung ist er Solist. Er ist auf sich gestellt in einer Familie oder einem Umfeld, das seine Stäke nicht erkennt, vielleicht sogar fürchtet. Das diese Kraft mit aller Macht klein halten will. Dieser Hochbegabte wird vielleicht später am letzten Pult eines Orchesters sitzen und sich grämen. Sich nicht erkannt fühlen. Leiden. Sich falsch fühlen - und im schlimmsten Fall - nicht gewillt sein, den Solisten, der an seiner statt vor dem Orchester steht zu unterstützen. Er fühlt sich falsch und kann seine Berufung nicht leben. Er hindert aber auch den anderen daran, seine Berufung zu leben. Er zerstört das große Ganze.
Wir müssen als Erziehungsbeauftragte jeden Menschen ermutigen, seine Hochbegabung zu erkennen, an-zuerkennen, zu unterstützen aber auch einzufordern. Wir müssen ihn auffordern, seiner Rolle in dem, was größer ist als er selbst, anzunehmen und zu leben. Ihn zu sehen, ihn zu tragen, zu ermutigen, zu stützen, wenn er einmal scheitert, ihn motivieren, wieder aufzustehen, weiterzugehen. Ihm vertrauen.
Selbst, wenn wir ihn nicht verstehen. Und es ist so, dass die meisten Hochbegabten nicht verstanden werden. Wie soll ein durchschnittlich begabter Mensch das denn auch, da er eben nicht zu dieser exponierten Rolle berufen ist, sondern eher zu einer begleitenden, tragenden. Auch ein begnadeter Musiker oder auch Sportler, ein Maler, Redner oder Mathematiker, braucht die passenden Lehrpersonen, Förderinnen und Förderer. Er braucht andere Anleitungen, andere Lerntechniken, die erheblich von den Methoden für in diesem Feld weniger Begabter abweichen können.
Jeder Mensch ist ein Solist auf einem bestimmten Gebiet, jeder braucht ein Orchester hinter sich, dass ihn unterstützt, mit seiner Berufung im Rampenlicht zu stehen. Diese Berufung gilt es zu finden, sie zu erfüllen. Mit Mut und Vertrauen bringt sie uns an die Grenzen dessen, was wir für möglich gehalten hätten. Jeder Mensch ist hochbegabt, wir müssen nur erforschen, worin. Oft finden wir unsere Berufung hinter dem, was uns die größte Angst macht. Da, wo wir am verletzlichsten sind. Da, wo wir das Orchester am meisten brauchen.